So als ob niemals es gegeben hier
Eine Familiengeschichte seit den 1920ern
HENTRICH & HENTRICH Verlag Berlin Leipzig 2022
Korsetts
Einige Wölkchen über der Stadt
Großmutter Faiggie und Urgroßmutter Pipikke
Tante Bezzi und ihre Kinder David und Josua
es ist Juni
zu der Zeit packt die Liebe jedermann
per Inversion
Badezimmer
Ankleiden
Spaziergang zum Bahnsteig
mit Koffern Kisten
der Zug fährt langsam
verschluckt sich
aber alle schaffen es zum Sabbat
der Weg zum Umschlagplatz in Nagyvárad
und das Einsteigen in Viehwaggons
eine lange Reise
vertrauter Bahnsteig dieselbe Menschenmenge
und der Marsch zum Badehaus
und wieder Wolken über der Stadt
Großmutter Faiggie und Urgroßmutter Pipikke
Tante Bezzi und ihre Kinder David und Josua
es ist Sommer
zu der Zeit packt die Liebe jedermann
ausnahmslos
saugt über den Schornstein ein
per Inversion
wieder das Badehaus
Ankleiden
zurück zum Bahnsteig
mit Koffern Kisten
der Zug fährt langsam
zu langsam
was heißt langsam?
verschluckt sich
aber alle schaffen es zum Sabbat
wieder der Weg zum Umschlagplatz in Nagyvárad
und das Einsteigen in Viehwaggons
eine lange Reise
was heißt lang?
vertrauter Bahnsteig dieselbe Menschenmenge
und der Marsch zum Badehaus
also ins Fegefeuer
und wieder Rauch, Wolken über der Welt
und gieriges Schauen nach unten
und Zurückkehren über den Schornstein
Einsaugen per Inversion
selbst wenn der Schornstein ein Trümmerhaufen ist
und der Ofen nicht mehr da
aber immer sind der Bahnsteig und die Gleise da
nur Pizzi ist nicht mehr da
sie ist in Stutthof Elbling
in Krakau auf dem Bahnhof
und am Meer in Givataim
ist die Mutter von Diti
doch sie kommt zurück und wird zurückkehren und wieder gehen
alle kehren zurück gehen wieder
sie kehren zurück nach Birkenau
nach Nagyvárad zum Sabbat
und wieder zurück
ab heute kehrt Judith zurück genannt Diti
in Gestalt von Judiths Großmutter – Faiggie genannt
mit ihren Haaren
trägt ihre Stöckelschuhe
ihr Korsett aus eigenem Betrieb in Nagyvárad
einen Hut von hiesiger Hutmacherin
eine Sonnenbrille
Koffer
das Etui mit Näh-Zubehör
entbehrlich – unentbehrlich
zum Schneidern – zum Leben
Unzutreffendes streichen.
Übersetzt von Zofia Bilut-Homplewicz und Anna Hanus
überarbeitet von K.-P. Dierks und B. Wrobel-Jahn